Schlagt den Kunden tot – es lebe CRM!

Der Mensch neigt dazu, einfache Lösungen zu suchen. In den letzten Jahren wurde uns durch Marketingstrategen und Analysten im Dienste der Informatikanbieter plausibel gemacht, dass wir über den Einsatz geeigneter Software-Tools die Bedürfnisse unserer Kunden besser in den Griff kriegen.

Artikel erschienen in Swiss IT Reseller 2001/14

     

Ob wir tatsächlich unsere Kunden ansprechen und genügend Möglichkeiten des Kundendialogs bieten, wird nur sehr selten geprüft. Kundenorientierung oder Neudeutsch Customer Relationship Management (CRM) ist aber in erster Linie eine Sache von Einstellung, Haltung und Prozessen.
Der Einsatz von Informatikmitteln hilft uns unter Umständen, unsere Idee besser zu implementieren und ermöglicht vor allem ein vielseitigeres Controlling und eine effizientere Planung. CRM hat sehr viel mit Geschäftsethik, Marketing und Kommunikation zu tun. Dass das Thema heute durch die Informatik besetzt ist zeigt nur, wie empfänglich wir für ‚Heils-Lösungen’ sind.

Eine Frage der Einstellung

Es ist eine Frage der Geschäftsethik und oft schlicht und einfach des Anstandes, inwieweit wir uns auf den Kunden einlassen, ihn ernst nehmen und ihn als unseren Partner betrachten.
Bei CRM geht es nicht um Hochglanzprospekte mit einer Verpflichtung zur Kundenorientierung und schon gar nicht um die Implementierung aufwendiger Softwarelösungen.
Es geht in erster Linie um die Überlegung, wo und in welcher Weise der Kunde besser bedient werden kann. Sehr oft sind dazu erstmal interne Prozesse, Verhaltensweisen, Einstellungen und Strukturen anzupassen. Am Anfang dieses Prozesses steht das Bewusstsein, wo der Kunde überall mit der Unternehmung in Kontakt kommt und wie er sie dabei erlebt.

Veränderung angesagt

Gerade im Informatik- oder, etwas genereller, im Technologie-Umfeld neigen wir stark zur Lösung von Problemen mittels technologischem Ansatz. Technologen vergessen, sich ihren Kunden zuzuwenden. In kaum einer anderen Branche ist man so kurzlebig auf Umsatz und Profit ausgerichtet.
Aber wie lange kann man es sich in einer sich konsolidierenden Branche noch leisten, die Bedürfnisse des Kunden zu ignorieren? Ein Paradigmen-Wechsel wäre dringend von Nöten. In drei bis fünf Jahren werden wir am Markt diejenigen Technologiefirmen antreffen, die sich heute auf die verändernden Umstände einzustellen vermögen.

Den Kunden (er)kennen

Ein hartnäckiger Irrtum ist etwa, dass Unternehmen ihre Kunden an deren Rechnungs- oder Lieferadresse vermuten. Dieser Irrtum hält sich, obwohl wir alle aus eigener Erfahrung wissen, dass der Nutzer eines Produktes oder einer Dienstleistung fast nie auch Debitor oder direkter Empfänger der Ware ist.
Schon bei einem Telefonfestanschluss ist es offensichtlich, dass weit häufiger Frau und Kinder Nutzer sind, der Ehemann und Vater aber die Rechnung begleicht. Im Mobilfunkbereich zeigt sich die Richtigkeit hoher Investitionen in Datensammlung und Kundenbindungsprogramme, weil hier mit hoher Wahrscheinlichkeit der Debitor auch der tatsächliche Nutzer ist.
Möchte ich mich im Unternehmen mit CRM, beziehungsweise Kundenorientierung befassen, ist dem Auffinden des tatsächlichen Nutzers, sprich Kunden, zu Beginn grosse Aufmerksamkeit zu schenken. Die Datenbasis, meistens handelt es sich dabei lediglich um Namen und Adressen, muss vorgängig auf Relevanz geprüft werden.

Mit Kunden kommunizieren

Dieser Prozess wird den Beteiligten aufzeigen, dass Sie eigentlich recht wenig über Ihre Kunden und noch viel weniger über deren tatsächliche Bedürfnisse wissen. Weiter werden sie feststellen, dass bei über 80% der verfügbaren Adressstämme keine Aussage über deren Gültigkeit gemacht werden kann. Der Grund dafür ist ein einfacher: Unternehmen kommunizieren nur mit ungefähr 20% ihrer Kunden regelmässig und dies sind meistens die Neuesten. Der grosse Rest liegt brach.
CRM bedeutet also, sich schon sehr früh Gedanken über die Art und Regelmässigkeit der Kundenkommunikation zu machen. Nur der ständige Dialog mit Kunden gibt mir die Sicherheit, mit den richtigen Personen im Gespräch zu sein. Und nur ein sauberes und fundiertes Kommunikationskonzept erlaubt mir, mich mit meinem Kunden in der Art und Weise auszutauschen, wie er es sich wünscht.

Den Kundenprozess verstehen

Wird CRM ernsthaft betrieben und nicht als Modegag verstanden, soll die Kundenorientierung und damit der Kundendialog effektiv sein. Das Kommunikationskonzept hat somit den Kundenprozess aktiv zu unterstützen. Es baut darauf auf, den Kunden je nach individueller Phase im Prozess anzusprechen und bei ihm etwas zu bewirken: Im allgemeinen will ich ihn über mein Kommunikationsverhalten in seinem Prozess eine Phase weiterbringen. Der Kundenprozess ist daher vorgängig unbedingt zu analysieren und zu verstehen:
Wann wird er zum ersten Mal auf mein Angebot aufmerksam?
Wann erkennt er mich als ernstzunehmenden Anbieter?
Wann wird sein Interesse ernsthaft geweckt?
Wann ist er bereit zu kaufen und warum tut er das?
Wie setzt er mein Angebot ein?
Wie geht er mit Problemen um?
Wie sehen seine Überlegungen bezüglich erneuten Geschäften mit mir aus?
In diesem Kundenprozess gibt es Momente, in denen der Kunde einen aktiven Dialog mit dem Anbieter wünscht, braucht oder sogar erwartet. Hier kann ich die Kommunikation aktiv gestalten und eine Wirkung herbeiführen. Dazu muss ich mir aber im Klaren sein, wie der Kunde funktioniert und wie seine Erwartungshaltung genau aussieht:
Was bewegt ihn dazu in seinem Prozess von einer Phase in die andere zu wechseln?
In welcher Phase möchte er auf welchen Kanälen kommunizieren?
Auf welche Argumente und welche Tonalität spricht er an?
Kein Kunde ist gleich. Theoretisch müssen also diese Fragen für jeden einzelnen Kunden separat beantworten werden. Da wir aber nur in Ausnahmefällen Kunden tatsächlich individuell ansprechen können, müssen vorgängig Kundenprofile erstellt werden.
Im Idealfall werden dazu natürlich aus riesigen Kundendatenbanken sogenannte Cluster gerechnet und daraus die Profile erstellt. Für all diejenigen, die nicht über diese Datenmengen verfügen, gibt es aber auch einen viel einfacheren und nicht minder erfolgreichen Weg um solche Profile zu erstellen: Eine Gruppe «Weiser» aus der Unternehmung selbst, unterstützt durch einen erfahrenen Moderator, definiert auch auf der Grünen Wiese genügend genau Profile.

Die Kundenrentabilität kennen

Nachdem sich ein Unternehmen Klarheit darüber geschaffen hat, wer tatsächlich die Kunden sind, wie mit diesen kommuniziert werden soll, wie ihr Prozess aussieht und welchem Profil sie zugeordnet werden können, bleibt zu eruieren, mit welchen Kunden nun auch wirklich Geld verdient wird. So trivial diese Aussage im ersten Moment klingt, es steckt eine Menge Arbeit dahinter.
Die nun besser bekannte Kundenbasis muss unbarmherzigen Analysen unterzogen werden, die neben dem Umsatz pro Kunden auch dessen Kosten ausweisen.
Was hat uns die Akquisition dieses Kunden gekostet?
Wie viele Techniker-Stunden werden für diesen Kunden aufgewendet?
Was kosten die Prozesse, unsere Kunden zu bedienen und wie oft wird ein solcher Prozess von diesem Kunden durchlaufen?
Wie viele offene «Calls» hat dieser Kunde?
Wie viele Reklamationen von diesem Kunden liegen vor?
Auch hier ist wieder wichtig festzuhalten, dass entsprechende Kosten nicht frankengenau vorliegen müssen. In den allermeisten Fällen reicht es, von internen Experten Schätzungen zu erhalten. Wichtiger ist aber, den Prozess zur Bestimmung der Kosten zu durchlaufen, so dass das Unternehmen dafür sensibilisiert wird und unter einem guten Kunden einen rentablen Kunden zu verstehen beginnt.
Viele Unternehmen staunen nicht schlecht, wenn sich plötzlich herausstellt, dass nicht die grössten «Umsatzbolzer» die hochrentablen sind, sondern einige kleinere oder mittlere Kunden. In den Dimensionen des CRM gedacht, stellen sich hiermit folgende Fragen:
Sollte die Kundengruppe mit hoher Rendite bei kleinem Umsatz gesondert behandelt werden?
Sollten gewisse Kunden an Partner oder Mitbewerber abgetreten werden?
Wie können unrentable Kunden rentabel gemacht werden?

Die Kundenerwartung erfassen

Oft ist weniger mehr. Bleibt zum Schluss zu definieren, was der Kunde vom Unternehmen erwartet. Wir tun nie zuviel für unsere Kunden, aber nur zu oft das Falsche. Mit steigender Kenntnis der Kundenbasis wird es möglich, Ansprachen individueller zu gestalten und den Kunden dort abzuholen, wo er sich zur Zeit befindet. Jedem Kundenprofil kann nun — allenfalls spezifisch auf den Kundenprozess abgestimmt — ein gesondertes Paket von Massnahmen zugewiesen werden:
Eine Gruppe soll zukünftig über Wiederverkäufer bedient werden.
Eine andere Gruppe soll zukünftig stärker durch den Aussendienst bedient werden.
Wieder bei anderen oder in Ergänzung zu obigen Massnahmen sollen gewisse Bedürfnisse per Internet abgedeckt werden.
Fehlen Service-Aspekte oder sind sie zu wenig ausgebildet
Vielleicht muss das Call Center intensiviert oder ganz neu angeboten werden.
Möglicherweise braucht es mehr Aktivitäten am POS.
Die Intensivierung von Mail-, beziehungsweise E-Marketing kann eine andere Massnahme sein.
Eine andere Erkenntnis mag sein, dass mehr für Werbung im klassischen Sinn gemacht werden muss.
Gewisse Gruppen sind vielleicht am besten über Promotionen und/oder Events anzusprechen.
Bewusstsein über die Dynamik des Kunden
Viele Unternehmen, beziehungsweise Mitarbeiter, tendieren zu einem unprofessionellen «Heimatschutz» alter, liebgewonnener, aber oft eben auch unprofitabler Kundenkontakte. Jede Unternehmung muss sich regelmässig Rechenschaft darüber ablegen, welches die Kunden der Zukunft sind und wie diese behandelt werden möchten. Strategien, Kommunikation, Prozesse und Investitionen müssen sich danach ausrichten. Wir dürfen nie davon ausgehen, dass sich uns die Welt zukünftig genau so präsentiert wie heute. Die Prozesse, wie sie oben beschrieben werden sind daher regelmässig, im Zusammenhang mit der Anpassung der Unternehmensstrategie, zu durchlaufen.

Schritte zum CRM

Bis anhin wurden die Aspekte beleuchtet, welche die Basis für ein funktionierendes CRM bilden. Zur Erarbeitung der Erkenntnisse ist ein methodisches Vorgehen wichtig.
Um Betriebsblindheit und der vorschnellen Wahl einer bequemen Lösung vorzubeugen, kann es von Vorteil sein, sich in einem solchen Projekt von einem unabhängigen Coach begleiten zu lassen, der auf Methodik und Projektphasen achtet, aber auch immer wieder der Dorn im Fleisch ist: Suchen Sie sich hierzu keinen bequemen Menschen!

Die Rolle der Informatik

Ist eine Unternehmung mit der grundsätzlichen Einstellung zur Kundenorientierung aller Beteiligten einmal erfolgreich, stellt sich erst die Frage nach Unterstützung mit Informationstechnologie. Wir müssen uns immer vor Augen halten, dass uns die IT in erster Linie bei der effizienten Verwaltung grosser Datenmengen unterstützt. Im ersten Beispiel mit dem fehlbaren Optiker fehlt es nicht an IT. Eine manuelle Kundenkartei und eine professionellere Einstellung reicht.
IT hilft uns, sehr viele Kundenprofile zu verwalten. Sie hilft uns, über einen längeren Zeitraum zu wissen, welcher Kunde wann mit uns wo im Kontakt war. Sie hilft uns, die Zahlen zu generieren, die uns zeigen, wie rentabel ein Kunde ist. Sie kann uns sicher auch helfen, Trends zu erkennen oder über Kennzahlen Frühindikatoren aller Art zu generieren.
Aber ob all der wunderbaren Zahlen und Informationen dürfen wir uns nicht täuschen lassen: Der Wurm liegt nicht in den Zahlen und Informationen, er liegt nicht im nahtlosen Tracking des Kunden und er liegt auch nicht im perfekten Kampagnen-Management über ein Tool.
Unser Verhalten ist unsere Marke. Es wird immer der Aussendienstmitarbeiter, der Service-Techniker, die Telefonistin oder sonst wer sein, der Sie auf die Bedürfnisse eines Kunden aufmerksam macht. IT ist Werkzeug, nicht Programm.
Ein Optiker verkauft eine Markenbrille, die nach wenigen Wochen Mängel aufweist. Nach drei erfolglosen Reparaturversuchen möchte der Kunde die Brille gegen ein anderes Modell eintauschen, da offenbar Materialprobleme bestehen. Der Optiker weigert sich mit dem Argument: mit etwas Sekundenkleber wäre das Problem zu beheben. Das Kunden-Argument: «Ich kaufe keine teure Markenbrille im Fachgeschäft, um dann mit Sekundenkleber zu basteln». Der Optiker will die Brille nicht ersetzen. Auf die Aussage des Kunden, er verliere damit mehrere Kunden nämlich ihn selbst, seine Frau und seine Kinder sowie sämtliche Freunde, was in den nächsten Jahren mehrere tausend Franken Umsatz sei, reagiert der Optiker lapidar mit den Worten: «Das ist mir egal!» Braucht dieser Mann tatsächlich eine CRM-Software-Lösung?
In einem Handelsunternehmen ruft ein Kunde an und beschwert sich über eine ungerechtfertigte Rechnung über 50 Franken. Da es in diesem Unternehmen gängig ist auch Kleinstbeträge zu handeln, ist dies kein Bagatellfall. Das Unternehmen hat aber die Doktrin: im Zweifelsfalle immer für den Kunden! Noch am Telefon wird der streitbare Betrag daher storniert. Auch der Blick in die Zahlen des Kunden zeigt, dass dieser seit Jahren rentabel ist und wei-tere Rechnungen zu einem vielfachen dieses Betrages offen stehen. Wichtig in diesem Fall ist, dass die Doktrin besteht, der Mitarbeiter die Kompetenz hat und in jedem Falle eine Lösung für den Kunden gesucht wird. Das Beispiel zeigt, dass gewisse Massnahmen auch ganz ohne Kundenprofile denkbar sind!
Ein Unternehmen hat Probleme mit seiner IT-Infrastruktur. Die von einem Hersteller gelieferten Rechner versagen den Dienst. Der Hersteller kann Ersatz innerhalb zehn Tagen liefern, sein Logistikkonzept erlaubt es ihm nicht schneller. Direkte Hilfe vor Ort ist auch nicht möglich, da ausschliesslich per Internet gehandelt wird. Dieses Konzept macht es möglich, zu sehr gün-stigen Preisen anzubieten, es ist aber dabei nicht möglich, Lagerhaltung zu finanzieren und Service zu bieten. Das Unternehmen weicht nun auf einen anderen Hersteller aus, der innerhalb Stunden liefern kann. Zu einem höheren Preis, aber dank Lagerhaltung eben schnell. Keines der Modelle ist besser. Jedes Modell kommuniziert aber implizit eine spezifische Haltung gegenüber dem Kunden.

Der Autor


Michel Bohren ist Berater und Coach in strategischen Projekten. Er hilft Visionen und Strategien zu entwickeln, in taktische Pläne einzuarbeiten und über konkrete Massnahmen bei Kunden zu realisieren. Sämtlichen Aktivitäten liegt die Philosophie einer bedingungslosen Kundenorientierung zugrunde. Entgegen anderer Philosophien spielt nicht die Überlegung, wie ein Angebot effizient erbracht und vermarktet werden soll die zentrale Rolle, sondern ausschliesslich die Frage nach dem Kundennutzen. Um diese Philosophie selbst zu leben, arbeitet er eng in einem Partnernetzwerk, um seinen Kunden jederzeit die richtigen Spezialisten empfehlen zu können.
(michel.bohren@bluewin.ch)


Artikel kommentieren
Kommentare werden vor der Freischaltung durch die Redaktion geprüft.

Anti-Spam-Frage: Aus welcher Stadt stammten die Bremer Stadtmusikanten?
GOLD SPONSOREN
SPONSOREN & PARTNER