«Die Giesskannenstrategie der grossen Anbieter funktioniert nicht»

Christian Lipski, Senior Consultant und Schweizer Country Manager des Marktforschers Forrester Research sagt im E-Business- und Internet-Services-Markt kleinen Anbietern mit fokussierter Strategie eine gute Zukunft voraus. Die One-Stop-Shop-Strategie sei bei KMUs nicht gefragt.

Artikel erschienen in Swiss IT Reseller 2002/01

     

IT Reseller: Ab wann sehen Sie für den E-Business- und Internet-Service-Markt Schweiz einen deutlichen Aufschwung?
Christian Lipski: Vor Mitte des Jahres auf keinen Fall, ab Q3 scheint mir die realistischere Variante. Regionale ISPs und spezialisierte Firmen haben eine gute Chance, bereits vor Q3 zu profitieren.

ITR: Welche Strategien sind gefragt?

CL: Man sollte sich den KMU-Markt genau ansehen. Die Giesskannenstrategie der Grossen funktioniert nicht, denn KMUs wollen keine «Out-of-the-Box»-, sondern «Customized»-Lösungen. Hier sehe ich zu wenig Fokussierung, mir fehlen die Stufenlösungen. Webagenturen müssen personalisierter und fokussierter an die Kunden heran gehen, d.h. nach Premium-, Medium- und Low-Kunden unterscheiden.
Regionale ISPs machen uns z.B. vor, dass Flatrates funktionieren können. Sie können besser und schneller auf kleinere Kunden eingehen. Hier könnten sich die Grossen eine Scheibe abschneiden, denn sie tun sich schwer, Angebote zu skalieren.

ITR: Wieviele der grossen Schweizer Webagenturen werden überleben?

CL: Ich sehe nicht mehr als zwei, vielleicht auch nur eine. Die anderen werden nur überleben, wenn sie eine fokussierte Strategie fahren. Es ist eine klassische Hype-Strategie, alles können zu wollen. Realistische Projekte mit realistischen Preisen und skalierbare Strategien sind gefragt. Das Scheitern der Grossen ist der Gewinn der Kleinen. Die One-Stop-Shop-Strategie funktioniert nur bei den ganz Grossen, und auch nicht bei allen. Das Scheitern von McKinsey in der Schweiz ist der Segen für kleine Consulter.
ITR: Welche Auswirkungen wird die Einstellung von SET und der Verkauf von Paynet an SAP haben?
CL: Ich sehe keine grossen Offensiven für Zahlungsstandards, die das Thema Vertraulichkeit und Sicherheit angehen. Mobile Payment ist zwar für gewisse Zielgruppen interessant, aber ich habe das Gefühl, dass von Seiten der Marktführer kein grosses Engagement besteht. Paynet war in Europa eines der wenigen Projekte, das wirklich überzeugt hat. Hier hätte ich mir mehr Mut der Banken gewünscht.
Man war mit der Entwicklung sehr weit, dann stirbt das Projekt in Schönheit und wird verramscht. Ich habe von SAP noch nicht gehört, ob Paynet in die Software integriert werden soll. Ich glaube, SAP sieht das mehr als eine Zukunftsinvestition und wird sich gefreut haben über das Schnäppchen.

ITR: Welche Auswirkungen wird der Brokat-Crash für die Schweiz haben?

CL: Die Schweizer Post wird noch Schwierigkeiten bekommen, denn durch die Aufsplitterung der Firma wird die Pflege der Software nicht mehr gewährleistet sein. Man muss eben vorsichtig sein, an wen man sich bindet. Regionale Dienstleister sind in gewissen Segmenten gut, aber Brokat ist ein gutes Beispiel dafür, dass man vielleicht eher konservativere Geschäftsideen ansehen muss und auch mal einen Franken drauflegt. D.h. man sollte sich nicht nur das Produkt, sondern auch die Firma genau ansehen, wenn man sicher sein will, dass der Partner auch in fünf Jahren noch existiert.
ITR: Welche Chancen geben Sie Schweizer Softwareanbietern — etwa im CMS-Bereich einer Obtree oder Day, nachdem Microsoft und SAP auch in diesem Teich fischen?
CL: Kleineren Firmen gebe ich durchaus eine Chance, denn KMUs ist persönliche Nähe wichtig. Wer kümmert sich von Microsoft schon um mich, wenn ich Probleme habe? Auch wenn es in den Hochglanzprospekten nicht so aussieht, aber eine Microsoft oder SAP sind an KMUs nicht interessiert.
ITR: Nun empfehlen Sie, einerseits auf bewährte Firmen, aber auch auf kleine, regionale Anbieter zu setzen. Was soll ein Kunde mit diesen sich widersprechenden Ratschlägen anfangen?
CL: Es ist die Quadratur des Kreises. Die Sicherheit der Grossen wird gemindert durch die Tatsache, dass sie zu teuer, nicht auf mich als KMU zugeschnitten sind oder Out-of-the-Box-Lösungen anbieten. Ich würde mir eine Referenzliste ansehen und prüfen, wie das Unternehmen verankert ist. Dies gilt insbesondere für an der Börse notierte Unternehmen. Ich würde nicht nur mit Projektverantwortlichen, sondern auch mit dem Management reden. Als Kunde würde ich mir Konzepte vorlegen lassen, Präsentationen verlangen, nicht bloss Verkaufsgespräche. Und ganz wichtig: bei Referenzkunden nachfragen, wie ein Projekt gelaufen ist. Bei KMUs tendiere ich dazu, regionale Anbieter zu empfehlen.
ITR: Worauf sollten Internet-Verantwortliche bei der Integration von
E-Business-Lösungen achten?
CL: Die Agenturen können Integration oft nicht bewerkstelligen, weil es bei denen viel zu technisch abgeht. Es gibt zwar den technischen Bereich, wo Web- in vorhandene IT-Struktur integriert werden muss. Was mir aber oft fehlt, ist die strategische Seite. Immer wenn ich in Firmen reinkomme, heisst es «Wissen Sie, unsere IT-Abteilung und unser Webmaster haben das und das besprochen...» Businesspläne werden oft nicht miteinbezogen. IT-Abteilung und Management müssen Projekte von A bis Z gemeinsam durchziehen. Dass Integration oft nicht funktioniert, liegt an den Dienstleistern.
Es braucht integrierte, teilautonome Projektarbeitsgruppen. Als Kunde würde ich auch sehr viel selber nachdenken und mir klarmachen, was ich erreichen will. Ich würde mir nicht von aussen sagen lassen, was meine Ziele sind. Strategie, Planung und Investitionen, Wünsche und Hoffnungen der Integration würde ich von einem externen Dienstleister «abarbeiten» lassen und den finanziellen Rahmen vorgeben.
(Interview: mh)


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