SBB-Überwachung - ein Sturm im Wasserglas?

Riesig war der Aufschrei in den Medien, nachdem der «K-Tipp» die Beschaffungspläne der SBB veröffentlicht hatte. Von den Überwachungsvorwürfen bleibt heute nicht viel übrig – und dennoch lassen sich einige Lektionen aus dieser Geschichte lernen.

Artikel erschienen in Swiss IT Reseller 2023/04

     

Die Vorwürfe waren happig: Von Massenüberwachung, automatischer Gesichtserkennung und sogar Eingriffen in die Grundrechte war die Rede, als der «K-Tipp», der sich in den Dienst der Konsumentinnen und Konsumenten stellt, die Ausschreibung der SBB für eine neue Kundenfrequenzmessung publik machte und eine regelrechte Medienentrüstung auslöste. Nachdem vereinzelte Fachmedien und Experten die Pläne der SBB detailliert untersucht und relativiert hatten, und auch der Eidgenössische Datenschützer involviert war, erscheinen die heraufbeschworenen Ängste etwas übertrieben. Eine eigentliche Gesichtserkennung ist und war nie vorgesehen, eine datenschutzkonforme Umsetzung ist sichergestellt, und die Zielsetzungen einer gezielten Frequenzmessung von Passagieren sind sinnvoll und nachvollziehbar. Trotzdem wäre es zu einfach, von einem Sturm im Wasserglas zu sprechen.
Ausgangslage
Die SBB hat kürzlich ihr Projekt «Kundenfrequenzmesssystem 2.0» auf Simap ausgeschrieben, um grössere Bahnhöfe mit neuen Kameras auszustatten. Gemäss der Ausschreibung sollen damit Passanten nach demographischen Kategorien wie beispielsweise Geschlecht, Altersklasse und Grösse erfasst werden. Die Aufnahmen sollen das lückenlose Tracking und die Auswertung der Laufwege einer Person anhand einer Personen-ID ermöglichen. Nebst der Befürchtung der Massenüberwachung im öffentlichen Raum stiess auch die ausdrückliche Absicht auf Unverständnis, dass die SBB durch die intensivere Datenerfassung die Umsätze, genauer gesagt die Abschöpfrate, in den Läden in den Bahnhöfen steigern will. Nachdem der «K-Tipp» das Vorhaben öffentlich kritisierte, relativierten die SBB die Vorwürfe: Es handle sich bei den Kameras um eine Gesichtserfassung, die von der automatischen Gesichtserkennung zu unterscheiden sei.

Sensibilität der Menschen unterschätzt

Die Angelegenheit veranschaulicht eindrücklich, welche Auswirkungen eine ungenügende Kommunikation bei Beschaffungsprojekten haben kann. Die Sensibilität der Menschen gegenüber potentiellen digitalen Grenzüberschreitungen verändert sich und damit auch die Wachsamkeit der Öffentlichkeit. Es lassen sich daher wichtige Lehren aus diesem Vorfall ziehen. Erstens und immer: Eine gute Kommunikation ist unerlässlicher Bestandteil einer Ausschreibung. Wer nicht aktiv und verständlich kommuniziert, lässt Raum für Interpretation offen und gerät in die Defensive. Ähnlich geriet die Bundesverwaltung bei der Cloud-Beschaffung in Verlegenheit, als sie wegen ungenügender Kommunikation Raum für Befürchtungen liess, unsere Daten würden demnächst in China gespeichert. Eine proaktive Kommunikation dient der Transparenz des Vorhabens und damit der Vertrauensbildung. Eine Datensammlung und -speicherung sollte stets offengelegt und erklärt werden, damit sie für Betroffene nachvollziehbar ist. Zweitens muss die Angemessenheit gewährleistet sein: Sind die Kameras überall notwendig, und sollen für den öffentlichen Raum andere Regeln gelten als für kommerzielle Räume? Weshalb sollen Alter und Geschlecht registriert werden können?


Datensparsamkeit ist nicht nur ein Gebot des Datenschutzgesetzes, sondern entspricht einem Bedürfnis von Konsumentinnen und Konsumenten. Entsteht der Eindruck einer übermässigen Datensammlung, so verbreitet sich auch ein emotionaler Widerstand gegenüber dem Vorhaben und dem Unternehmen selbst.

Ethische Betrachtung ist Teil der Digitalisierung

Drittens und zusammenfassend empfiehlt es sich, vor allem für grosse Unternehmen und ausgedehnte Projekte, die Einrichtung eines Ethik-Rats. Ein solches Gremium blickt differenzierter und losgelöster auf ein Digitalprojekt als die Geschäftsleitung oder die Projektabteilung, die eine operative Perspektive einnimmt. Es kann ebendiese beraten und das Beschaffungsprojekt besser, gezielter und ausgewogener gestalten. Es stellt die Menschen in den Vordergrund und unterstützt das Unternehmen dabei, den Einsatz von digitalen Mitteln konsequent an deren Bedürfnisse zu orientieren, etwa mittels klarer Prinzipien und Handlungsanweisungen.


Zusammenfassend lässt sich für den Fall SBB festhalten, dass das vermeintliche Überwachungsprojekt harmloser ausfällt als es zunächst schien. Es hat aber die Wachsamkeit der Medien und der Öffentlichkeit eindrücklich demonstriert und kann wichtige Erkenntnisse für eine bessere, nachhaltige und ethische Digitalisierung bieten. Auch der Bundesrat wird aufgrund einer Interpellation auf dieser übergeordneten Ebene Stellung nehmen müssen.

Die Autorin

Judith Bellaiche ist Geschäftsführerin von Swico und amtierende Nationalrätin. Sie engagiert sich im Parlament für eine nachhaltige Digitalisierung und den Grundsatz «Digital First» am Innovations­standort Schweiz. In dieser Doppelrolle transportiert sie die Anliegen der Digitalbranche in die Politik und leistet wichtige Übersetzungsarbeit für das gegenseitige Verständnis zwischen Wirtschaft und Politik. Zur Causa SBB hat sie eine Interpellation an den Bundesrat eingereicht.


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