Standardisierung – und dann?

Die Standardisierung der Software in der Finanzindustrie verändert die Voraussetzungen für Software-Entwickler in diesem Bereich radikal. Flexibel bleiben und sich weiterbilden ist der Ausweg.

Artikel erschienen in Swiss IT Reseller 2005/19

     

Wir befinden uns im Jahr 2010 – ein kleiner Sprung für einen Menschen, aber ist es dies auch für einen Software-Entwickler im Schweizer Bankenumfeld? Begleiten wir einen Software-Entwickler im Jahre 2010 auf seiner Stellensuche in der Schweiz.
Unser Software-Entwickler bewirbt sich zunächst bei kleineren und mittelgrossen Banken in der Schweiz. Schon seit einigen Jahren verdrängen die Standardplattformen die gute alte Hausentwicklung vom Platz eins. Kleine und mittelgrosse Banken haben keine Wahl mehr, wenn sie nicht von den Kosten der IT aufgefressen werden wollen. Sie müssen ihre IT auslagern, und es bleibt ihnen noch die Entscheidung, welche Standardplattform sie möchten und welchen Betreiber sie bevorzugen.
Dies führt dazu, dass im Jahr 2010 alle kleinen und mittelgrossen Banken ihre IT an einen externen Betreiber ausgelagert haben. Diese Banken benötigen intern nur noch wenige Entwickler für bestimmte, sehr spezifische Schnittstellen und noch Mitarbeiter für die Koordination und Überwachung des Betreibers. Ein Eldorado für Entwickler gibt es hier nicht mehr.

Erfahrung in der Integration gesucht

Unser stellensuchender Entwickler erhält deshalb nur lauter Absagen und unternimmt einen zweiten Versuch bei den externen Betreibern von standardisierten IT-Plattformen. Diese sind natürlich in erster Linie daran interessiert, ihre eigenen Kosten zu kontrollieren und niedrig zu halten. Sie versuchen, möglichst viele Kunden für ihre Plattformen zu gewinnen und diese Anwendungen möglichst standardisiert zu halten.
Da sich im Verlaufe der Zeit die Kosten der erfolgreichen externen Betreiber von Standardplattformen aber angleichen, müssen sie sich durch Zusatzleistungen von ihren Mitbewerbern differenzieren.
Was heisst dies nun für unseren Entwickler? Der Betreiber benötigt eine Anzahl von Integratoren zur Implementation und Parametrisierung der Plattformen. Die Standardprodukte, die er zusätzlich im Angebot hat, müssen auch noch angepasst und für sie Schnittstellen entwickelt werden. Damit werden mehrheitlich Mitarbeiter mit Erfahrungen in der Integration gesucht und weniger reine Software-Entwickler.

Leere Entwicklungsfabriken bei Grossbanken

Aber unser Software-Entwickler lässt sich nicht entmutigen und versucht es nun bei den Herstellern von Software-Produkten selber. Wird er hier erfolgreicher sein? Da der Trend immer weiter Richtung Produktentwicklung geht, ist dies der Bereich, in dem am meisten Software-Entwickler beschäftigt werden. Aber warum sollte jemand auf die Idee kommen, ein Produkt im Hochlohnland Schweiz entwickeln zu lassen, wenn er dies für einen Bruchteil der Kosten in China machen kann?
«Ausbildung und Branchenkenntnis sind in Niedriglohnländern nicht ausreichend», denkt sich unser Software-Entwickler. Dieses Argument schmilzt jedoch schon heute wie ein Eisberg in der Südsee. Würde im Jahr 2010 noch eine Bankenplattform wie Avaloq in der Schweiz entwickelt? Dies ist wirklich zu bezweifeln.
Nun, unserem Entwickler bleiben ja Gott sei Dank noch die Grossbanken, die auch im Jahr 2010 ihren Host immer noch nicht durch eine Standardplattform ersetzt haben. Diese Banken setzen zwar auch immer mehr auf Standardprodukte, aber aufgrund der bestehenden Infrastruktur müssen sie immer noch viele Entwicklungen eigenständig durchführen.
Hier scheinen wir endlich erfolgreich sein zu können auf der Suche nach einer Stelle für unseren Software-Entwickler. Doch schaut man sich im Jahre 2010 einmal in der Entwicklungsfabrik der Grossbanken um, wird man recht leere Hallen vorfinden. Die Mitarbeiter, die hier noch arbeiten, entwickeln schon lange nicht mehr selber. Sie nehmen noch die funktionalen Anforderungen des Business auf und spezifizieren diese, damit die Software-Entwicklung in einem billigen Drittland einwandfrei laufen kann. Der Anteil von internen Software-Entwicklern hat sich massiv reduziert, der Bedarf an guten Mitarbeitern in der Spezifikation und im Projekt-Management hingegen ist gewachsen.

Anpassung an neue Anforderungen

Dunkle Perspektiven für unseren Software-Entwickler? Wo sind all die Stellen für die «Green Card»-Mitarbeiter, die noch in den Jahren 2000 und 2001 gefragt waren? Die Anzahl und Qualität der Anbieter von Software-Entwicklungen in Drittländern hat stärker zugenommen als ursprünglich angenommen und dies mit einer ungeahnten Geschwindigkeit.
Mit den Löhnen dieser Länder werden wir nicht mithalten können, daher bleibt unserem Software-Entwickler nichts anderes übrig, als sich den wandelnden Anforderungen anzupassen.
Noch hat er die Chance, sich in
die Richtung zu bewegen, die auch zukünftig noch in der Schweiz gefragt sein wird. Er hat die Möglichkeit, näher ans Business zu gehen und im Bereich der Spezifikation einen wertvollen Beitrag zu leisten. Oder aber
er kann sich auch mehr in Richtung Implementator/Betreiber von Plattformen und Produkten entwickeln und sich dadurch gute Chancen für die Zukunft sichern. Schliesslich kann er sich auch noch in Richtung Projekt-Leiter oder System-Architekt entwickeln, je nachdem wie seine Fähigkeiten gelagert sind. Der Bedarf an reinen Software-Entwicklern in der Schweiz ist allerdings mehr als fraglich, wenn der derzeitige Trend anhält.

Die Autoren

Michaela Ernst ist diplomierte Volkswirtin und als Senior Manager bei der Firma Comit tätig, einem IT-Dienstleister für die Finanzindustrie.

Heiner Eichenberger ist promovierter Betriebswirt und Partner sowie Mitglied der Geschäftsleitung bei Comit.


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