Fachkräftemangel in Indiens IT-Branche

Indische IT-Unternehmen wildern erfolgreich in westlichen Märkten. Aber billig zu sein, ist auf Dauer nicht ausreichend. Wahrheiten und Weisheiten von der Reise unseres Korrespondenten in ein Land, das sich im Aufbruch befindet.

Artikel erschienen in Swiss IT Reseller 2008/08

     

Manchmal wird aus einer kleinen Spinnerei ein richtig grosser Laden. Als B. Ramalinga Raju 1987 seinen Textilbetrieb mit spontaner Radikalität in eine IT-Schmiede umwandelte, erkannte er die Zeichen der Zeit. Heute ist Satyam (zu deutsch: «die Wahrheit») einer von sechs grossen IT-Service-Anbietern, die mit offensivem Expansionsdrang in die USA und nach Europa Ängste hervorrufen. «96 Prozent unseres Geschäfts machen wir ausserhalb Indiens», gesteht B. Rama Raju, CEO und Mitgründer von Satyam. Und: «76 Prozent unseres Kapitals kommen von ausländischen Investoren.» Denn das Geheimnis des Erfolgs von Firmen wie Satyam, TCS, Infosys, Wipro, Cognizant und HCL besteht natürlich in dem skandalösen Lohngefälle zwischen dem Schwellenland und den westlichen Industrienationen: Arbeitskraft kostet, weshalb Unternehmen ihre IT-Kosten vor allem über diesen Hebel zu minimieren versuchen. «Die Menschen sind unser grösstes Kapital», sagt Rama Raju.

Nur wenige profitieren vom IT-Boom

Dank dem Trend zur Auslagerung von Geschäftsprozessen westlicher Firmen konnte die indische IT-Industrie in den vergangenen Jahren sensationell expandieren. Zuwachsraten von über 46%, wie sie Satyam soeben zum zweiten Mal in Folge zum Abschluss des aktuellen Geschäftsjahres verkündete, sind da fast schon etwas Normales. Rund 2,14 Mrd. Dollar Umsatz kann der gar nicht mal grösste IT-Service-Anbieter Indiens damit verzeichnen. Um 39,7% auf 417 Mio. Dollar stieg der Nettogewinn. Bei Satyam arbeiten über 50’000 Menschen, Tendenz immer noch stark steigend.


Drei Millionen Menschen ernährt die IT-Industrie in Indien direkt, zwölf Millionen indirekt. Bei mehr als 1,1 Milliarden Indern, von denen weit mehr als die Hälfte keinen richtigen Job hat, wird auch eine Verdoppelung der Beschäftigtenzahlen das Gros der Menschen nicht von der Strasse bringen. Exakt dort leben zahllose Familien buchstäblich im Dreck des überquellenden Verkehrs, der auch nachts nie zur Ruhe kommt.

Die Grenzen des Wachstums

Und die Grenzen des Wachstums sind bereits in Sicht. Mitbewerber wie Tata Consulting Services erleben bereits schmerzliche Aktieneinbrüche, weil das Geschäft in den USA deutlich nachgelassen hat. Auch Satyam rechnet für 2009 mit einem Umsatzwachstum von «nur» noch 24 bis 26%. Also richten sich die Blicke noch schärfer nach Europa. Mit dem Niederländer Peter Heij als Europa-Chef soll nach dem relativ gut erschlossenen britischen Markt nun auch der europäische Kontinent erobert werden. Interessant für die Inder sind vor allem der Finanzdienstleistungssektor, aber auch die Auto- und Luftfahrtindustrie. In den Forschungslabors von Satyam in Chennai, dem Detroit der indischen Autoindustrie, bastelt man eifrig an Zukunftstechnologien für tatsächliche und potentielle Auftraggeber, zum Beispiel RFID-Steuerungen im Verkehr.


Denn billig alleine wird auf die Dauer nicht reichen. «Qualität und technologische Führerschaft» haben sich die beiden Rajus auf die Billiglohnfahne geschrieben. Denn indische Offshoring-Anbieter haben ein Image-Problem: In ihren jeweiligen Branchen marktführende Grosskonzerne nehmen zwar ihre Dienste ausgiebig in Anspruch, wollen sich aber öffentlich in der Regel nicht dazu bekennen. Besucher erleben daher bei Führungen durch die vollklimatisierten IT-Legebatterien so manches blaue Wunder, indem sie die Namen der weltbekannten Auftraggeber aus Pharmaindustrie, Automobilbau und Bankensektor zwar lesen, ausserhalb der scharf bewachten Technologie-Parks aber nicht darüber reden dürfen.

Fachkräftemangel in «Cyberabad»

Während zumindest die Gegend um die neue IT-Metropole Hyderabad, inoffiziell bereits umbenannt in Cyberabad und Hauptfirmensitz von Satyam, einen beispiellosen Bauboom erlebt, der nicht zuletzt auch durch die Ansiedlung grosser ausländischer IT-Unternehmen beflügelt wird, haben die einst billig eingekauften Mitarbeiter das Gesetz von Angebot und Nachfrage für sich entdeckt. Daher sind die Löhne stark gestiegen: Wer zu wenig bietet, dem laufen die Leute davon. Bis zu einem Fünftel der Belegschaft sollen bei Satyam jährlich das Weite gesucht haben, nachdem sie ihre Referenz in der Tasche hatten. Angesichts des allgemeinen Expansionsdrangs hat Also auch Indien seinen Fachkräftemangel. Eine unternehmenseigene Qualifizierungs-Initiative soll dem entgegensteuern und dabei Nachwuchs aus weniger hohen Bildungsschichten rekrutieren, nach dem Motto: «Gewöhnliche Menschen schaffen aussergewöhnliche Dinge.» Für wiederum gewöhnliches Geld? Das wäre verdienstvoll und hat doch einen seltsamen Beigeschmack - wegen des leicht sektenartig (oder vielleicht auch nur US-amerikanisch) anmutenden Credos: «Satyams Weg ist der Richtige». Der führt erklärtermassen aber auch in neue Billiglohn-Oasen wie China, Malaysia, Ungarn oder vielleicht Rumänien. (Ralph Beuth, Hyderabad)


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