Wie überleben im Haifischbecken

Eric Scherer, Marktkenner und Verfasser der «ERP-Zufriedenheitsstudie», zeigt in diesem Essay, wo für ERP-Softwarehersteller die Fallstricke liegen und wie sie diese umgehen können. Funktionalität ist wichtiger als Technologie.

Artikel erschienen in Swiss IT Reseller 2007/03

     

«ERP-Branche geschockt über den ­Semiramis-Konkurs» - so oder ähnlich berichtete die deutschsprachige Computerpresse über den Insolvenzantrag des österreichischen Softwareherstellers Semiramis. Tenor der Berichterstattung war immer wieder die Verwunderung darüber, dass ein so hoch gelobtes Produkt derartig scheitern konnte. Sicherlich kann man die «Semiramis-Pleite» als Spitze eines Eisberges betrachten. Der ERP-Markt scheint jedoch noch immer eine magische Anziehungskraft auszuüben, sonst ist es kaum zu erklären, wieso so viele Anbieter auf einen letztlich beschränkten Markt drängen. Immer wieder wird die ERP-Branche mit einem Haifischbecken verglichen, in dem sich allzu viele Fische tummeln. Letztlich stellt sich die Frage, was einen erfolgreichen ERP-Anbieter auszeichnet und was Entscheidungsträger im ERP-Geschäft tun müssen, um langfristig zu überleben

Erfolg ist nicht mit Qualität gleichzusetzen

An erster Stelle der Hinweis: Ein erfolgreicher ERP-Anbieter ist nicht zwingend auch ein guter Anbieter. ­Dies zeigt sich, wenn man beispielsweise den Versuch unternimmt und die Ergebnisse der alljährlich durchgeführten ERP-Zufriedenheitsstudie mit den Geschäftskennzahlen der einzelnen ERP-Anbieter vergleicht: Eine Korrelation von wirtschaftlichem Erfolg und Kundenzufriedenheit lässt sich nicht feststellen. Jeder Entscheidungsträger im ERP-Markt muss letztlich entscheiden, ob er sich langfristig den Interessen seiner Kunden verpflichten möchte - diese Strategie kann man mit «klein, aber fein» umschreiben - oder auf Wachstum setzt - hier gilt: Die Lernkurve bezahlt letztlich der Kunde.

Technologie bringt keinen Unterschied

Der ERP-Markt ist von Komplexen und Fehlwahrnehmungen geprägt. Eine davon ist die Vorstellung, dass ERP-Systeme, die nicht umfassend auf die neuesten Technologien setzen, alternden Elefanten gleichen. Diese Wahrnehmung verführt regelmässig dazu, zu glauben, dass einzig der Besitz einer brandneuen Technologie schon zum Markterfolg führt. Letztlich liegen hier gleich zwei Fehlwahrnehmungen vor: Erstens ist für den Erfolg am ERP-Markt Funktionalität – und zwar wirklich verfügbare – noch immer wesentlich wichtiger als eine «Top-Technologie». Anbieter, die noch immer meinen, fehlende Funktionalität mit dem Spruch «das realisieren wir dann im Projekt – es ist ja so einfach» zu verkaufen, verkennen, dass auf Langfristigkeit ausgelegte Funktionalität nicht einmal schnell im Rahmen eines Projektes entwickelt werden kann. Zweitens ist Technologie heute ein Allgemeingut, das letztlich allen Anbietern zur Verfügung steht. Die zugrundeliegenden Basistechnologien werden, wenn man von einigen wenigen Anbietern absieht, ohnehin von Dritten entwickelt.

Marketing dominiert Entwicklung

Ein weiteres Problem ist das unausgeglichene Verhältnis zwischen Marketing und Entwicklung. Insbesondere Systeme der jüngeren Generation leiden darunter, dass sie quasi vom Marketing gesetzten Anforderungen regelrecht hinterherhecheln und eine «Entwicklung am Rande» der eigenen Funktionalität betreiben, statt endlich fehlende Funktionalität im Kern zur Verfügung zu stellen. Dieser Umstand stört während der Verkaufsphase in der Regel wenig, da letztlich auch die Kunden ihre Eva­luationsprojekte eher emotional statt rational anpacken und sich auf neue Themen und «Highlights» konzentrieren. Fehlende Funktionalität im Detail muss letztlich später im Projekt dennoch zur Verfügung gestellt werden. Dies führt dann zu Mehraufwand, den keiner bezahlen möchte. Das bindet nicht nur Entwickler­kapazitäten an der falschen Stelle, es führt auch zu verärgerten Kunden.

Fehlende Branchenorientierung

Mit der immer weiter ausufernden Funktionalität von ERP-Systemen entsteht ein dringender Bedarf zur Beschränkung und Fokussierung. Durch diese Brille betrachtet, ist eine klar wahrnehnmbare Branchenfokussierung für Anbieter von umfassenden ERP-Systemen unabdingbar. Letztlich können es sich nur noch die Anbieter von reinen Buchhaltungssystemen leisten, branchenübergreifend zu arbeiten. «Branchenorientierung» ist dabei in den letzten Jahren selbst zu einem Schlagwort geworden. Es reicht aber nicht aus, quasi über ein «Re-engineering» des eigenen Kundenstamms plötzlich eine Branchenorientierung zu postulieren. Eine klare Branchenorientierung erfordert eine ideale Kombination von Systemfunktionalität, Entwicklungsstrategie und Beratungskompetenz, die letztlich auf langjähriger Erfahrung und aktivem Mitwirken in den Gremien der jeweiligen Branche, etwa im Bereich der Standardisierung, basiert.

Mehr Kompetenz auch in Wachstumsphasen

Eines der grössten Probleme für ERP-Anbieter ist noch immer das nicht gemeisterte Dilemma zwischen Wachstum und Kompetenzerhalt. Viele Anbieter leiden daran, über eine hohe und langjährige Projektkompetenz zu verfügen und diese während einer Wachstumsphase schnell wieder zu verlieren. In der Folge ist die ERP-Branche am laufenden Schweine­zyklus zwischen Euphorie und Ernüchterung selbst beteiligt. Im Moment durchläuft die Branche eine wirtschaftlich gesehen gute Phase. Parallel – so zumindest die ganz persönliche Beobachtung des Autors – wird die Beratungskompetenz immer schlechter. Hier ist es dringend notwendig, mehr auf Konstanz zu setzen und für den internen Wissenstransfer, aber auch die interne Qualitätssicherung klare Prozesse zu etablieren.

Der Autor

Eric Scherer (Bild) ist Partner und Geschäftsführer des Beratungs- und Markt­forschungsunter­nehmens Intelligent Systems Solutions (i2s) in Zürich.
Er ist Initiator der «ERP-Zufriedenheitsstudie», die jeweils auszugsweise im IT Reseller veröffentlicht wird.
www.i2s.ch;


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