«Wir zeigen ihnen Bilder von Schweizer Dörfern»

In Sachen IT ist Indien das Angstbild vieler westlicher Unternehmen. Der schier unerschöpfliche Nachwuchs an gutausgebildeten Informatikern und tiefe Löhne sind ihre Waffen auf dem globalen Markt. Sie selber sehen sich nicht als Konkurrenten, sondern als Partner des Westens. Noch immer leben viele Familien von einem Dollar pro Tag und müssen sehr kreativ sein, um etwas zu verdienen.

Artikel erschienen in Swiss IT Reseller 2007/07

     

Am Fluss Musi liegt die südindische 6-Millionen-Metropole Hyderabad. Bis zur Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1948 war die heutige Hauptstadt des Bundesstaates Andhra Pradesh die Hauptstadt des von den Briten kontrollierten Fürstenstaates Hyderabad. Heute beherbergt die oft auch als ­Cyberabad bezeichnete Industriestadt neben der Biotechnologie- und Pharmaindustrie vor allem auch Elektronik- und Softwarefirmen.
Zwischen den Zwillingsstädten Hyderabad und dem von den Engländern gegründeten Secuderabad liegt ein romantischer See – einzig die Warnschilder mit der Aufschrift «Wenn Sie sich zu lange in Wassernähe aufhalten, kann das Ihre Gesundheit ­gefährden» wirken ein Wenig ab­schreckend. Unweit der beiden Städte, auf einem 120 Meter hohen Hügel, steht die Ruinenstadt Golkonda. Früher das Zentrum der Macht, ist die gigantische Festung heute ein Touristenmagnet, von dessen höchsten Mauern die ganze Gegend überblickt werden kann.

Luxus-Inseln

Vorbei an den Blechhütten und Zeltstädten der ganz Armen führt der Weg an den Stadtrand von Hyderabad, wo auf einem unüberschaubar grossen Gelände der Campus des indischen Dienstleistungskonzerns Satyam angelegt wurde. Rund 4300 der 8000 Satyam-Angestellten in Hyderabad arbeiten hier. Um die 600 von ihnen wohnen sogar auf dem Firmengelände. Kein Wunder: Die Unterschiede zu den Strassen der Stadt sind frappant. Hier sind die Wege frei von Abfall, und das ganze Gebiet ist mit üppiger Vegetation gesegnet. Für die Mitarbeitenden gibt es neben einem Swimmingpool, Tennis-, Golf- und Kricketplätzen sogar einen kleinen Zoo, der hauptsächlich von zahlreichen Vogelarten, wie beispielsweise Pfauen, bewohnt wird. «Erholung ist sehr wichtig, wenn man konzentriert arbeiten will», begründet ein Satyam-Mitarbeiter die vielfältigen Freizeitangebote.
Entspannt ist man bei Satyam. Die Firma – mit vollem Namen heisst sie Satyam Computer Services – wurde 1988 vom heutigen Chairman B. Ramalinga Raju gegründet. Der Name ist die südindische Version des Hindi-Wortes satya, was auf deutsch so viel wie «Wahrheit» bedeutet. 1992 überschritt der Umsatz des Unternehmens die Grenze von einer Million Dollar. Im letzten Jahr war es bereits eine Milliarde, und für 2007 rechnet das Management mit 1,4 Milliarden Dollar. Als kurzfristiges Ziel werden gar zwei Milliarden angepeilt. «Das spricht nicht für Satyam, sondern für die Zeit, die sich geändert hat», gibt sich der langsam und überlegt sprechende Ramalinga Raju bescheiden. Tatsächlich ist Satyam mit diesen für westliche Unternehmer traumhaften Wachstumszahlen eine für indische Verhältnisse «normale» Erscheinung. Betrugen die Umsätze der gesamten indischen IT-Industrie in den frühen 90er Jahren noch wenige hundert Millionen Dollar, rechnet man bis ins Jahr 2010 mit bis zu 100 Milliarden.
Nicht zuletzt dank dieser Zahlen strotzen die indischen IT-Fachkräfte vor Selbstvertrauen. «Indien ist das Servicecenter der Welt, wie die Chinesen die Fabrik der Welt sind», so Ramalinga Raju. Dass die indischen Outsourcer im Westen Arbeitsplätze vernichten, glaubt er nicht - im Gegenteil: «Viele Firmen könnten ohne Outsourcing gar nicht überleben.» Es gehe dabei nicht um Länder, die gegeneinander kämpften, sondern darum, gemeinsam neue Werte zu schaffen und dadurch die Armut global zu bekämpfen.
An zu bekämpfender Armut mangelt es Indien weiss Gott nicht. Wer den berühmten «Kulturschock» noch nie persönlich erfahren hat, dem sei eine Reise in den Subkontinent empfohlen. Bereits beim Anflug auf die 20-Millionen-Megacity Mumbai (früher Bombay) sieht man rund um das Flughafengelände die schier endlosen Slums aus Blech und Lumpen.

Trotz Armut optimistisch

Auch in Hyderabad gibt es zahlreiche Wellblechhütten- und Zeltlager, doch gibt es hier, zumindest in der Innenstadt, im Gegensatz zu Mumbai eine weniger deutliche Unterteilung in wohlhabende und arme Quartiere. Alles ist durcheinander, und gleich neben Luxusboutiquen wühlen Müllsammler in den Containern. Ohnehin scheint Hyderabad in Gefahr zu laufen, im Müll zu versinken. Das sei nicht immer so gewesen, versichert der PR-Verantwortliche für den deutschsprachigen Raum von Satyam, das sei erst seit dem Aufschwung so. Die Müllabfuhr ist offenbar nicht gleich schnell gewachsen wie die Petflaschenproduktion. Doch auch die Menschen scheinen die Strassen überfluten zu wollen. Alle sind unterwegs, zu Fuss, per Fahrrad, Bus im Auto oder einer der motorisierten dreirädrigen Rikschas, die Tucktucks genannt werden und etwa 80 Prozent des innerstädtischen Verkehrs ausmachen. Alle hupen ohne Unterbruch, und die dreispurigen Strassen werden mindestens fünfspurig befahren. Für Indien kennzeichnend: Auch die Ärmsten setzen bisweilen auf die IT, wenn es darum geht, etwas Geld zu verdienen. So sieht man hin und wieder, wie ein öffentliches Telefon angezapft und mit Modem ausgerüstet wird, um die Leute für ein wenig Geld übers Netz telefonieren zu lassen. «Inder sind Optimisten», verrät Vijay Prasad, Senior Vice President, Enterprise Applications and BI-Solution, «sie glauben immer, dass das nächste Jahr besser wird. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass das für viele wirklich zutrifft.»

Die Schweizer Dörfer

Arm war der Satyam-Gründer Raju nie: Er stammt aus einer wohlhabenden Farmerfamilie, und 2004 war er mit einem Vermögen von rund 500 Millionen Dollar sogar auf der Forbes-Liste der 40 reichsten Inder vertreten. Der Wohlstand seiner Familie ermöglichte ihm das Studium in den USA. Nach dem Tod seines Vaters stieg er ins Familiengeschäft ein, das mittlerweile neben dem landwirtschaftlichen Teil auch im Baugewerbe tätig ist.
In den 80er Jahren begann er sich für die IT zu interessieren und gründete eine Firma. «Es war eher ein Hobby», betont er, man habe erst später realisiert, welches Potential die Branche hatte.
Mit der 2001 gegründeten und nach seinem Vater benannten Byrraju Foundation versucht er zusammen mit Partnern wie Microsoft und IBM die Probleme des Landes direkt anzugehen. Die Stiftung entwickelt Dörfer in Zusammenarbeit mit den betroffenen Einwohnern. «Am Anfang ist es nicht leicht, den Leuten eigene Ideen zu entlocken», sagt Verghese Jacob, Lead Partner der Byrraju-Stiftung. Das Problem sei, dass sie schlicht nicht wüssten, wie ihr Dorf in Zukunft aussehen könnte. «Dann zeigen wir ihnen beispielsweise Bilder von Schweizer Dörfern. Zuerst denken sie, das sei das Paradies, und entwickeln dann unglaublich viele Ideen.» Die Stiftung baut in den Dörfern Schulen, Hospitäler und Wasseraufbereitungsanlagen. Ein zentraler Aspekt des Programms ist aber auch die Schaffung von Arbeitsplätzen in den Gemeinden. So seien rund 20 Prozent der Dorfbewohner komplett arbeitslos, und viele andere schlagen sich als Tagelöhner mehr schlecht als recht durch, erklärt Jacob. Wie in Indien üblich, wird das Problem in erster Linie mit Hilfe von Computern angegangen: So gründet die Stiftung in vielen Dörfern kleine Firmen, die Basisdienstleistungen wie beispielsweise Datenerfassung anbieten. Diese Firmen erhalten zu Beginn Aufträge von Satyam, bleiben aber im Besitz der Stiftung, die die Gewinne in neue Projekte investiert. «Diese Firmen schaffen auch weitere Jobs, beispielsweise mit Restaurants oder Taxidiensten», erklärt Jacob.
Satyam selbst beschäftigt weltweit rund 38’000 Personen. Im Jahr 2002 ging Satyam zusätzlich zu den bisherigen Dienstleistungen mit einer Business Process Outsourcing (BPO)-Tochter an den Start. Die Firma mit dem Namen Nipuna ist in der so genannten Hitec (Hyderabad Information Technology Engineering Consultancy) City von Hyderabad angesiedelt, wo auch viele westliche IT-Konzerne vertreten sind. Neben einfachen Callcenter-Diensten werden auch Dienst­leistungen für die Finanz-, Medien-, Energie-, Automobil- und Pharma­industrie angeboten. Wie der Mutter­konzern Satyam kann auch Nipuna mit traumhaften Wachstumszahlen aufwarten: Wurden 2006 noch 20 Millionen Dollar umgesetzt, rechnet man bis 2009 mit über 100 Millionen.

Steigende Löhne

Vom Erfolg beflügelt, liebäugeln die Inder mittlerweile auch mit Akquisi­tionen im Ausland. So hat Satyam erst kürzlich die im Bankensektor tätige englische Firma Citysoft übernommen. In dieser Branche generiert Satyam rund 30 Prozent des Umsatzes und arbeitet seit einiger Zeit auch an Projekten für eine der grössten Schweizer Banken.
Doch nicht alles läuft rund im Subkontinent. So macht den indischen Firmen die vielerorts noch sehr mangelhafte Infrastruktur des Landes zu schaffen, und auch die Abwanderung vieler in Indien ausgebildeter Ingenieure sorgen bisweilen für Kopfzerbrechen. «Wir müssen unser Potential künftig besser ausschöpfen, sonst gibt es Probleme», so Chairman Raju. Der Mangel an gutausgebildeten Arbeitskräften sorgt denn auch in Indien zusehends für steigende Löhne. Sind einfache Ingenieure noch immer für ein Einstiegsgehalt von 4000 bis 7000 Dollar pro Jahr zu haben, kosten Leute mit einer Ausbildung, die dem Master Degree gleichgestellt ist, bereits zu Beginn rund 25’000 Dollar pro Jahr – ein stattliches Gehalt für ein Land, wo noch immer viele Menschen von einem Dollar pro Tag leben. (mag)


Artikel kommentieren
Kommentare werden vor der Freischaltung durch die Redaktion geprüft.

Anti-Spam-Frage: Aus welcher Stadt stammten die Bremer Stadtmusikanten?
GOLD SPONSOREN
SPONSOREN & PARTNER