Typische Softwarefirmen gibt es nicht

Wer sich mit den Schweizer Entwicklern von Individualsoftware befasst, stellt zuerst einmal fest, wie vielfältig die Szene ist. Die typische Firma gibt es nicht, dafür auch in Zukunft Platz für Unternehmen, die hochwertige Produkte entwickeln.

Artikel erschienen in Swiss IT Reseller 2004/07

     

Ein Blick in ein Schweizer Branchenverzeichnis zeigt: Auf eidgenössischem Terrain tummelt sich eine schier unüberschaubare Zahl von Software-Firmen, die für ihre Kunden massgeschneiderte Lösungen entwickeln. Damit wird aber auch gleich der Beweis erbracht, dass der Schweizer Markt für Individual-Software vital ist – trotz des oft zitierten Trends in Richtung Offshore-Entwicklung.
Trotzdem bringt es die fortschreitende Standardisierung im Softwarebereich mit sich, dass für unabhängige Software-Architekten die Räume teilweise enger werden oder sich die Aufgaben verlagern. Nicht zuletzt deshalb haben die Firmen, die in der Software-Entwicklung tätig sind, längst damit begonnen, ihre Aktivitäten Zug um Zug auf andere Gebiete auszuweiten.
Einen «typischen» Schweizer Entwickler von Individualsoftware zu finden, fällt auch deshalb schwer. Die meisten Firmen bieten gleichzeitig zumindest Beratungsdienstleistungen oder Systemintegration an. Eine Abgrenzung vorzunehmen, wie gross der Schweizer Markt für Individualsoftware ist und wer als Player genau dazugehört, ist darum schwierig.

Einsichten aus der Marktforschung

Entsprechend rar sind Studien, die gezielt die Schweizer Individual-Softwarebranche und ihre Akteure unter die Lupe nehmen. Im vergangenen Jahr hat die Firma Dr. Pascal Sieber & Partners eine Untersuchung vorgelegt, welche die Branche zahlenmässig erfasst.
Für das Jahr 2001 machte die Marktforschungsfirma basierend auf Zahlenmaterial des Bundesamts für Statistik 9583 Firmen aus, die im Bereich der Software-Entwicklung und
-beratung tätig waren (primäre Softwarebranche).
Für die Betriebszählung des Bundesamts für Statistik aus dem Jahr 1998 liegen auch Daten vor über die Grössenverteilung nach Mitarbeitern in der Schweizer Softwarebranche. Obwohl diese Zahlen nicht mehr aktuell sind, wird sich an der Tendenz kaum etwas geändert haben. Die überwiegende Mehrheit von 57,6% der Software-Entwickler und -Berater bestand damals aus Ein-Mann-Unternehmen. Weitere 18,3% machten 1998 die Firmen mit zwei bis drei Angestellten aus und 12,2% mit vier bis neun Mitarbeitern.
Die Zahlen zeigen ferner, dass damals ein solches Software-Unternehmen typischerweise über 1,04 Standorte verfügte – also faktisch keine Filialen unterhielt. Daraus kann geschlossen werden, dass die Geschäftsaktivitäten sich auf einen engen Raum beschränkten.

Profitiert von der Investitionshemmung

Während über die vergangenen Monate viele Firmen darbten, scheinen gerade die Software-Engineering-Firmen von den zurückliegenden dürren Zeiten für die IT-Industrie eher profitiert zu haben. Indem die Budgets eingefroren und Investitionen hinausgezögert wurden, stieg der Bedarf für Anpassungen an der bestehenden Infrastruktur: Hier gab es eine Code-Brücke zu schlagen, dort musste eine Anwendung mit einer zusätzlichen Schnittstelle versehen werden – das bedeutet Aufträge für die Software-Ingenieure.
Diese Entwicklung wird auch von der Marktforschungsfirma MSM Research so erwartet, wie die Zahlen zeigen, die IT Reseller zur Verfügung gestellt wurden. Aus der Prognose geht hervor, dass sich hierzulande die Ausgaben für Individual-Software für einmal dynamischer entwickeln als jene für Standardsoftware.

Ein paar Trümpfe in der Hand

An die fortschreitende Standardisierung im Softwarebereich haben sich die Software-Engineering-Firmen längst gewöhnt. Mit dem Offshore-Trend geistert aber ein Gespenst durch die Branche, das nach wie vor für einige Verunsicherung am Markt sorgt.
Mittlerweile scheint aber die erste lähmende Angst ob dieser Entwicklung einem gesunden Selbstvertrauen gewichen zu sein.
Die Software-Engineering-Firmen verweisen auf Anfrage von IT Reseller auf durchaus nachvollziehbare Trümpfe, die sie im Wettbewerb mit der Offshore-Konkurrenz ausspielen können.
So argumentiert Daniel Linder, Marketing Manager bei Ergonomics aus Zürich beispielsweise: «Die Chancen liegen bei der Kundennähe und den kurzen Wegen.» Dr. Michael Böni vom Shift Think-Expertenteam, führt die Schweizer Ingenieur-Tugenden sowie die Konzeption als die besten Argumente für das heimische Software-Schaffen ins Feld, um im globalisierten Wettbewerb bestehen zu können.
Um dabei ein gutes Qualitätsniveau zu erreichen, sei es wichtig, rentable und unrentable Kunden zu identifizieren und die internen Entwicklungsprozesse zu überprüfen, führt Claudio Dionisio aus, Präsident des Branchenverbandes Simsa (Swiss Interactive Media and Software Association) sowie Partner und Geschäftsleitungsmitglied bei Namics.
«Da zudem in einigen Kernbereichen das Innovationstempo wieder höher wird, gilt es, mit den neuen Entwicklungen mitzuhalten und die nötigen Kompetenzen rechtzeitig auf- und diese in die Prozessstruktur einzubauen», so Dionisio weiter.

Kunde im Auge behalten

Es sei extrem wichtig, die Probleme und Bedürfnisse des Kunden genau zu kennen und diese zusammen mit den Anforderungen sorgfältig und detailliert in den Spezifikationen zu beschreiben, greift Dionisio einen weiteren wichtigen Punkt auf. «Kunden wollen keine ‘Produkte’: Sie suchen perfekte Lösungen für ihre Probleme», so der Simsa-Präsident.
Dabei unternehmen die Software-Entwickler ständig eine Gratwanderung zwischen Qualität und Zeit. Die Time-to-Market ist nach wie vor ein Reizwort. Gemäss Senol Sakru, CEO von Pitsoft, habe sich dieser Faktor über die letzten Jahre enorm verändert. «Die Qualität des Testens bleibt auf der Strecke», erklärt er. Einen anderen Vorbehalt macht Michael Böni von Shift Think mit dem Hinweis, dass die Kontinuität der Weiterentwicklung nicht ausser Acht zu lassen sei. «Hier sehe ich eine grosse Schwäche der Schweizer Software-Industrie», erläutert er.
Ein wenig anders nimmt dies Markus Kaufmann, Head of Corporate Communications bei Netcetera wahr: «Die Time-to-Market in Software-Projekten hat sich in den letzten Jahren nicht dramatisch verändert. Einerseits hat sich seit dem Platzen der E-Bubble der entsprechende Druck seitens der Kunden zwar spürbar reduziert. Andererseits hat aber der erhöhte Reifegrad der gesamten Software-Industrie den Zeitbedarf für Software-Entwicklungen generell verkürzt.»

Gemeinsame Sache

Dass gerade in einem schwierigen wirtschaftlichen Umfeld Partnerschaften an Bedeutung gewinnen, ist fast schon eine Binsenweisheit. Simsa-Präsident Claudio Dionisio unterstreicht aber, wie wichtig die sorgfältige Partnerwahl ist: «In Frage kommen nur hoch spezialisierte Spezialisten, die ebenfalls hohe Massstäbe ansetzen», erklärt er, «noch wichtiger als in den internen Prozessen wird dabei das Projekt- und Ressourcen-Management».
Stephan Rupprecht von Codelab Solutions erläutert die entscheidenden Vorteile einer Partnerschaft unter seinesgleichen folgendermassen: «Man hat als Unternehmen die Möglichkeit der Spezialisierung auf einen bestimmten Fachbereich und kann dem Kunden mit ebenfalls einem spezialisierten Partnerbetrieb ein Gesamtkonzept anbieten.»
Und für Daniel Linder von Ergonomics wird das projektbasierte Pooling mit einem Partner in den kommenden Jahren sogar einer «der kritischen Erfolgsfaktoren» bleiben. «Es müssten endlich Integration und Standards entstehen, welche die Software-Entwicklung auf einen neuen Level heben könnten», ruft Michael Böni von Shift Think zu gemeinsamen Zielen unter den Software-Entwicklern auf, «es wird viel zu viel in Flickwert investiert».

Verschiedene Zukunftsszenarien

Darüber, in welche Richtung der Markt für Individual-Software in den nächsten Jahren treiben wird, bestehen unterschiedliche Ansichten unter den Branchenvertretern. Senol Sakru von Pitsoft rechnet damit, dass binnen zehn Jahren die individuelle Software-Entwicklung sich auf die Entwicklung von Modulen für neue Funktionen beschränken wird.
Ähnlich beschreibt Markus Kaufmann von Netcetera die nahe Zukunft. Er geht davon aus, dass es künftig kostenmässig kaum noch einen Unterschied ausmache, ob beim Kunden eine Standardlösung an dessen Bedürfnisse angepasst oder eine Custom-Lösung aus standardisierten Komponenten und Modulen speziell für den Kunden assembliert werde.
«Da aber die zu realisierenden Lösungen in aller Regel in bestehende Daten- und Systemwelten integriert werden müssen, wird die kundenspezifische Anpassung einer Lösung auf jeden Fall von zentraler Bedeutung bleiben», erläutert Kaufmann weiter.
Für andere wird sich über die nächsten Monate der Offshore-Trend weiterhin bemerkbar machen. «Der mittlere Osten wird auch bald als Development Outsourcing-Markt entdeckt», skizziert Michael Böni von Shift Think die nahe Zukunft. Und Simsa-Präsident Claudio Dionisio hat ein zukunftsweisendes Erfolgsrezept für die Schweizer Softwarebranche parat: «Das Geheimnis erfolgreicher Software-Projekte ist: Standardisierung soweit wie möglich und Flexibilität soweit wie nötig.» (map)


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