Think Digital: Nur noch 99 Mails checken
Quelle: zVg

Think Digital: Nur noch 99 Mails checken

Von Joerg Schwenk

Artikel erschienen in Swiss IT Reseller 2022/04

     

Es war irgendwann in den 90er-Jahren. Ich begann meine Arbeit als Verkäufer und arbeitete fortan im Büro und nicht mehr in der Fabrikhalle. Mit Kunden und Herstellern kommunizierte man über Telefon, Fax, per Briefpost, und manchmal sogar per Telex. Es war normal, als Gegenüber einige Tage auf Antwort zu warten. Und überhaupt: Bevor jemand Kommunikation anstrebte, musste eine gewisse Wichtigkeit in der Sache vorhanden sei – denn Kommunikation bedingte einen gewissen Aufwand, der sich lohnen musste.

Internet und insbesondere E-Mail gab es, war aber noch lange nicht in allen Firmen etabliert und nicht jeder besass eine eigene E-Mail-Adresse wie ich. Deshalb war mein E-Mail-Postfach oft angenehm leer und man konnte damit das tun, wozu es sich am besten eignete. Und das ist nicht zu versuchen, ein zwischenmenschliches Gespräch zu ersetzen, sondern Information von A nach B zu transferieren.


In den vergangenen 25 Jahren hat mir E-Mail oft sehr nützliche Dienste geleistet. Dennoch wünsche ich mir mitunter, man hätte es nie erfunden. Ich bekomme heute E-Mails, egal, wo ich bin. In den Ferien, auf meinem Handy, selbst auf meiner Uhr bin ich nicht sicher davor. Wohlgemerkt ist es nicht die Technologie, sondern deren Anwendung, welche mir zunehmend Schwierigkeiten bereitet. Das rastlose Hin und Her von teilweise belanglosen Informationen. Haben wir das früher wirklich gebraucht, um gute und lohnende Geschäfte zu tätigen?

In den vergangenen 25 Jahren lief etwas schief. Aber nicht auf Seiten Technologie, sondern eher bei den Anwendern. Wer hat beispielsweise das CC oder das BCC erfunden und wozu? Nicht genug, dass man sich ständig E-Mails schreiben darf, man muss darüber auch noch alle im Betrieb in Kenntnis setzen. Die CYA-Mentalität – «Cover your A…» – ist in vollem Gange und lässt meine Inbox nochmals massiv anschwellen. Wissen die denn nicht, dass ich diese Mails nur sehr selten lese? Die Motivation dahinter ist klar. Du weisst davon und du hast es somit abgesegnet, damit ist es nicht meine Schuld, wenn etwas passiert. Auf lange Sicht produziert dies unselbstständige Mitarbeiter, die keine Verantwortung selbst tragen oder Entscheidungen mehr fällen können oder wollen.
The «Temple of Busy» – E-Mail als Zwischenspeicher. «Hört sich toll an, Joerg, aber ich muss zu meinem 10:30-Uhr-Termin! Keine Zeit! Kannst du es in eine E-Mail packen?» – Ja, klar kann ich. Und logischerweise noch ein paar CC, sodass jeder weiss, die ­Sache kommt von mir. Ich fühle mich gut, denn ich habe mich gerade im Unternehmen profiliert. Und ich habe wieder ein Stück Arbeit vom Tisch, zumindest sofern keiner antwortet. Und wenn es nicht weiterverfolgt wird, so war es nicht meine Schuld.

Gestellte Fragen per Mail ­beantworten, um so die Notwendigkeit weiterer Mails zu beenden? Passiert selten. Weil jeder selbst unter einem überfüllten Posteingang leidet, wird oberflächlich geantwortet, was widerum zusätzliche nachfragende Mails auslöst. Ein Teufelskreis. Fragen genau lesen und darauf antworten scheint heute keine Fähigkeit mehr zu sein, auf die man Wert legt.


Warum E-Mail noch nicht tot ist? Böse Zungen behaupten, weil E-Mail eine Möglichkeit ist, sich mit Schriftlichkeit zu schützen und sich zu profilieren. Hinzu kommt wohl, das E-Mails unterschwellig eine Messlatte sind, wie beschäftigt ich im Unternehmen bin. Ich habe viele E-Mails, ergo bin ich wichtig.

Ich habe einen «CYA»-Ordner in meinem E-Mail-­Client. Da hinein kommen Mails, von denen ich vermute, dass ich sie später nochmals benötigen werde, weil die Sache definitiv vor dem Chef oder in der Personalabteilung landen wird. Zusätzlich habe ich einen «CC»-Ordner. Wozu er dient, ist Ihnen sicher schnell klar. Ich weiss aber genau, dass das nicht die Lösung ist, denn je länger ich darüber nachdenke, umso klarer wird es für mich: Nicht die Konsumation von E-Mails muss überdacht werden. Trendiges Digital-­Detox in allen Formen bedeutet leider nur, die Auswirkungen zu behandeln, nicht aber die Ursachen. Soll E-Mail das wertvolle Werkzeug bleiben, das es ist, so müssen eben diese Ursachen angegangen werden. Und diese liegen wie immer im Verhalten der Leute und im unsachgemässen Umgang mit Technologie.


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